Dr. Wolfgang Töchterle (42) leitet seit vier Jahren die Abteilung Marketing und die Touristik bei IDM, der Dachorganisation des Tourismus im Südtirol. Davor war er Geschäftsführer und Vorstandsmitglied des Skigebiets 3 Zinnen Dolomiten und war ebenfalls lange für die Agentur Südtirol Marketing sowie für Digitalagenturen tätig. Töchterle hat Betriebswirtschaftslehre an der Leopold-Franzens-Universität studiert.

Herr Töchterle, hat sich die Tourismus-Branche in Südtirol gut von der Corona-Krise erholt?

Ja, bereits 2022 hat sich der Tourismus, der rund 40’000 Beschäftigte zählt, wieder erholt. Wir verzeichneten sogar ein leichtes Plus gegenüber 2019. Durch den Wegfall des Frühlings verschob sich jedoch die Reisezeit in den Sommer und Spätherbst. Wir hatten erstmals das Phänomen des Overtourismus. Ich sage immer: Deutschland hat 80 Millionen Fussballtrainer und das Südtirol 500 000 Tourismusexperten. Jeder spürt die positiven und negativen Auswirkungen des Fremdenverkehrs. Wir haben aufgrund dieser Erfahrung verstanden, dass wir den Tourismus breiter aufstellen müssen als bisher. Bisher war er eine Branche wie eine andere, mit relativ wenig Einflussnahme von aussen. Der neu eingeschlagene Weg ist komplett anders.

Wie sieht dieser neue Weg aus?

Wir haben die Chance genutzt, gemeinsam mit dem Zukunftsinstitut und 300 Vordenkern aus 20 verschiedenen Branchen die Zukunft des Tourismus breit zu diskutieren. Das neue Leitmotiv heisst «TourisMUT» und ist ein Appell, mutige Entscheide zu treffen. «TourisMUT» baut auf ein Wertehaus. Zuoberst steht das Identitätsbewusstsein. Alle Angebote sollen «echt Südtirol» sein. Nicht alles, was auf der Welt existiert, passt zu uns. Daraus abgeleitete Werte sind «Naturverbindlichkeit» – die Natur ist die wichtigste Ressource des Südtirols. Zweitens «Innovationsmut» – mutige Entscheidungen treffen, diese branchenübergreifend denken und die Digitalisierung als Hilfe nutzen. Das Dritte ist «Gemeinschaftsverantwortung». Der Tourismussektor will gemeinsam mit der Bevölkerung und den Branchen, aber auch mit Gästen die derselben Wertegemeinschaft entstammen, handeln. Das werteorientierte Führungsmodell soll den Unternehmen dazu dienen, ihre Entscheidungen auf diese Werte hin abzuchecken. Wenn ich diese Fragen positiv beantworten kann, ist die Chance gross, dass es sich um ein gut gemachtes Projekt handelt.

Welche Themen beschäftigen die Südtiroler Tourismus-Branche darüber hinaus?

Zu den insgesamt sechs strategischen Themen, an denen wir arbeiten müssen, zählt zum Beispiel die Ganzjahresdestination: Wir versuchen, die Hauptsaison etwas abzuflachen und die Nebensaisons zu stärken. Das gelingt uns relativ gut.

Wie geschieht das?

Wir steuern dies zum einen durch Kampagnen. Südtirol fährt keine Kampagne mehr, welche die Hochsaison im Sommer befeuern. Die Kampagnen betonen den Südtiroler Frühling, den Südtiroler Herbst oder den Winter. Die Effekte sieht man. Wir werden wahrscheinlich im August 2023 – das tönt jetzt komisch, wenn ich das mit Freude sage – fast sechs Prozent Minus schreiben (Anm. d. Red.: Prognose zum Zeitpunkt des Interviews).

Gibt es auch ein Firmenreisen-Geschäft im Südtirol und wie entwickelt sich dieses?

Wir sind seit gut einem Jahr proaktiv und professionell unterwegs im MICE-Bereich. Unser Ziel ist es, Meetings oder Tagungen ins Südtirol zu holen. Wir haben eine Studie gemacht und festgestellt, dass das Südtirol in den Köpfen der meisten Menschen als Incentive-Destination wahrgenommen wird. Dies aufgrund der breiten Möglichkeiten für Freizeitaktivitäten. Das grösste Potenzial haben wir bei Meetings mit bis 150 Personen. Deshalb bearbeiten wir das Thema jetzt mit den Regionen im Südtirol. Es gibt fünf Punkte mit professioneller Infrastruktur für Meetings, Bozen, Bruneck, den Raum Brixen, Meran und im Vinschgau bei Schlanders die «Basis» – einen kleinen Innovationskomplex in einer ehemaligen Militärbasis.

Ein ganz anderes Thema: Wie wichtig sind die Schweizer Gäste im Südtiroler Tourismus?

Sehr wichtig. Sie sind der drittwichtigste Markt nach den Deutschen (rund 50 Prozent) und den Italienern (rund 30 Prozent) und stellen fast fünf Prozent aller Gäste. 2022 zählten wir rund 370’000 Ankünfte aus der Schweiz. Die Schweizer bereisen Südtirol stark in der Nebensaison im April und Mai sowie im September und Oktober. Aus dem Grund ist uns der Schweizer ein lieber Gast, weil er meistens nicht in der Hauptsaison bucht – sondern in der besten Jahreszeit (lacht). Der Schweizer ist auch ein sehr angenehmer Gast. Er ist bescheiden, sieht nach, wenn etwas mal nicht so gut läuft und ist gutgelaunt. Das schätzen wir. So sind innerhalb von Europa nicht mehr alle.

Sind der Vinschgau und Meran immer noch die Lieblingsorte der Schweizer?

Ja, das ist natürlich und geographisch gewachsen. Mehr und mehr Schweizer entdecken aber auch die Weingegenden Südtirols und die Dolomiten.

Wie ist das Buchungsverhalten der Schweizer?

Es ist kurzfristiger als beispielsweise dasjenige der Deutschen, doch das ist der generelle Trend im Tourismus. Um die besten Plätze zu bekommen und die besten Deals mitzunehmen, empfiehlt sich eine längerfristige Buchung. Sie erwähnten das Phänomen des Overtourismus, manche Sightseeing-Plätze in Ihrer schönen Provinz sind überfüllt.

Was unternehmen die Tourismus-Verantwortlichen dagegen?

Überfüllte Plätze gibt es nur einige wenige im Südtirol, das darf man nicht verallgemeinern. Am Pragser Wildsee zum Beispiel hatten wir aber wirklich ein Problem. Phasenweise hielten sich an einem Tag bis zu 15’000 Personen am See auf. Da haben wir eine Kontingentierung eingeführt. Im Moment gelangt nicht mehr die Hälfte zum See. Wir mussten handeln, damit es für alle, die dort sind, noch ein gutes und schönes Erlebnis ist. Gleichzeitig vermeidet man so, dass Touristen nur wegen eines Selfies hinfahren und dann gleich weiter reisen. Sie machten 20 Prozent des Verkehrsaufkommens aus und übernachten oft auch nicht im Südtirol. Diese Art von Tourismus möchten wir uns nicht leisten.

Wie haben Sie das gemacht?

Es gibt ein Schrankensystem in der Hauptzeit. Über eine Webseite kann man sich anmelden. Im Villnöss-Tal ist auch ein solches System implementiert, am Karersee ist es geplant.

Der öffentliche Verkehr im Südtirol könnte optimiert werden. Gibt es da Neuigkeiten?

Nur knapp zehn Prozent der Gäste reisen heute mit dem Zug an. Unser Ziel ist es, diese Quote in diesem Jahrzehnt auf 20 Prozent oder mehr rauszuschrauben. Wir haben auch eine Umfrage bei unseren Gästen durchgeführt. Interessanterweise sagen rund 50 Prozent, dass sie sich gut vorstellen könnten, mit dem Zug zu kommen. Sogar rund 80 Prozent können sich sogar vorstellen, gar kein Fahrzeug vor Ort zu benutzen. Der Grund ist, dass der öffentliche Verkehr extrem gut organisiert und zuverlässig ist…

Wie wollen Sie das Ziel von 20 Prozent mehr Gästen erreichen?

Im Jahr 2024 wird die flächendeckende Gästekarte fürs Südtirol eingeführt, in der alle öffentlichen Verkehrsmittel von der An- bis zur Abreise inbegriffen sind. Diese Karte kauft der Gast schon mit der Hotelbuchung. Die Idee dahinter ist, dass wir sehr viel Volume vom heutigen Autoverkehr auf die öffentlichen Verkehrsmittel verlagern können. Im Hintergrund ist das mit dem neuen digitalen System Südtirol Marketplace gekoppelt, verbunden mit einer dazu gehörigen App. Aufgrund der erhobenen Daten kann die App feststellen, wieviele Personen sich voraussichtlich an bestimmten Orten wie dem Pragser Wildsee oder in Meran Zentrum aufhalten werden. Das System teilt dir proaktiv mit, wie du deinen Tag planen kannst. Beispielsweise: «Geh heute erst ab 16 Uhr zu einem bestimmten Ort.» Oder: Warum fährst du 60 Kilometer an diesen See, wenn in deiner Nähe ein anderer, ebenso schöner See zu sehen ist? Das nennt man Recommandation Engine. Wie gesagt: Wir starten 2024 damit.

Von der Schweiz aus über Graubünden mit dem öffentlichen Verkehr anzureisen, dauert unendlich lange. Gibt es Bestrebungen, dies zu ändern?

Die Vinschger Bahn zwischen Mals und Bozen wird in den nächsten Jahren elektrifiziert; heute fahren Dieselzüge. Die Elektrifizierung des Schienennetzes zielt darauf ab, den Betrieb umweltfreundlicher zu gestalten, aber auch die Effizienz zu erhöhen. Elektrische Züge können oft schneller beschleunigen und bremsen, was zu kürzeren Fahrzeiten führt. Es soll in Zukunft auch mehr Direktzüge geben, die nicht an jedem kleinen Bahnhof halten.

Wann wird es soweit sein?

Die Elektrifizierung der Vinschger Bahn befindet sich in der Planungsphase. Die Fertigstellung ist für 2025 vorgesehen. Ebenso experimentieren wir übrigens im öffentlichen Verkehr mit dem Rufbussystem. Über die App wird man einen Transport bestellen können. Wir stehen hart im Wind, um den öffentlichen Verkehr nachhaltiger zu gestalten und für die Einheimischen und die Gäste zu optimieren.

Ein Quantensprung im öffentlichen Verkehr wären der Brenner-Basistunnel zwischen Österreich und Italien und der Eisenbahntunnel zwischen Scuol und Mals. Wo stehen diese Infrastruktur-Projekte?

Das Projekt Brenner-Basistunnel befindet in der Bauphase. Die Finanzierung wurde weitgehend gesichert, und der Bau zeigt in einigen Abschnitten gutes Vorankommen. Die Fertigstellung ist für das Jahr 2032 vorgesehen. Der Status des Tunnelprojekts Scuol – Mals liegt in der Planungs- und valuierungsphase. Das Projekt wird voraussichtlich in den kommenden Jahren, möglicherweise innerhalb des nächsten Jahrzehnts, abgeschlossen.

www.idm-suedtirol.com